30. Juni 2013

Kritische Zivilgesellschaft in der Türkei stärken!



Seit Wochen demonstrieren Bürger*innen der Türkei, vor allem in Istanbul, für mehr Demokratie und eine liberalere Türkei. Mit ihrem kreativen und friedlichen zivilen Ungehorsam versuchen die Demonstrant*innen auf die Demokratiedefizite und weitere gesellschaftliche Missstände hinzuweisen – wir, als Grüne Jugend NRW, solidarisieren uns mit den friedlich Protestierenden!

Mehr grün unterstützen!

Die Proteste begannen im Istanbuler „Gezi Park“. Dort plant die jetzige AKP-Regierung eine osmanische Kaserne mit einem integrierten Einkaufzentrum zu errichten. Dieses Projekt blockierte die Istanbuler Zivilgesellschaft zusammen mit der Grünen Bewegung. Dieses Beispiel steht exemplarisch für die Bauwut gegen den Willen der betroffenen Menschen: So soll z.Bsp. in Mersin ein Atomkraftwerk mitten in der Natur entstehen, oder die historische Kulturstätte „Hasankeyf“ einem Staudammprojekt weichen.
Auch die Benennung der dritten Brücke über den Bosporus, nach Yavuz Sultan Selim der für ein Massaker an Alevit*innen im Osmanischen Reich verantwortlich war, ist eine weitere inakzeptable Entscheidung der AKP-Regierung.

Mehr Queer! Mehr Feminismus!

Die jetzigen Proteste in Istanbul sind vor allem aber auch die Proteste unterdrückter Frauen: Sie widersetzen sich der konservativ geprägten Rollenzuschreibung. Sie fordern, dass es zu einer Selbstverständlichkeit wird, von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch zu machen. Es fällt auch in die Aufgaben des Staates sicher zu stellen, dass das Gleichberechtigungsgesetz auch in der Praxis umsetzbar ist – anstatt ihnen vorzuschreiben wieviele Kinder sie zu gebären haben. Kleidungsvorschriften fallen für uns nicht in die Zuständigkeit einer Regierung! Auch Familienplanung sollte nicht der staatlichen Aufsicht unterliegen, daher unterstützen wir die feministische Bewegung gegen krude Vorstellungen eines Abtreibungsverbotes ab der 5.Schwangerschaftswoche. Durch das Verbot des „Zärtlichkeitsaustausches in der Öffentlichkeit“ wird das Thema Sexualität in der Öffentlichkeit gänzlich tabuisiert! Ein damit verbundenes Tabuthema ist auch Inter-, Trans-, Homo-, Pan-, Poly- und Bisexualität im Allgemeinen: Die zivilgesellschaftliche Bewegung, vor allem in Istanbul, ist auch eine Bewegung queerer Lebensstile. Wir unterstützen die Gleichberechtigung aller Menschen, gleich welchen Geschlechtes und sexueller Orientierung – in der Türkei und der ganzen Welt.

Mehr Vielfalt unterstützen!

Die Proteste in Istanbul werden auch von den verschiedensten Ethnien und religiösen Gemeinschaften aus der Türkei mitgestaltet. So fordern Armenier*innen, die an den Gezi-Park angrenzende Straße, wo sich ursprünglich ein armenischer Friedhof befand, nach dem armenischen Journalisten Hrant Dink umzubennen, der von türkischen Nationalist*innen umgebracht wurde. Der Völkermord an den Armenier*innen muss endlich in der Türkei anerkannt und ihm frei von Repressionen gedacht werden! Die Demonstrant*innen fordern auch ein Ende der Assimilationspolitik: Für die Förderung der Vielfalt und des Friedens in der Türkei ist es unumgänglich auch ein Angebot der von Minderheiten gesprochenen Sprachen in staatlichen Institutionen und im schulischen Sprachunterricht zu stellen. Dies gilt auch für den verpflichtenden sunnitischen Islamunterricht, der auch Menschen anderer Religionen und Konfessionen aufgezwungen wird. Kurd*innen müssen, wie alle Menschen, fair und rechtsstaatlich behandelt werden. Wir sehen die Türkei, nach Abzug der PKK, in der Pflicht den kurdischen Kommunen und Menschen eine neue demokratische Selbstverwaltung zu gewährleisten und somit der ur-jung-grünen Forderung nach Selbstbestimmung und Eigenverantwortung einzuleiten. Sie würden auf diesem Weg auch Militarismus und Gewalt nachhaltig entgegenwirken! Die GRÜNE JUGEND NRW fordert ein Ende der Kriminalisierung all jener zivilgesellschaftlicher und politischer Bewegungen – insbesondere der Bewegungen der unterdrückten Minderheiten, wie z.B. der kurdischen Minderheit, die auf demokratischem und friedlichem Wege ihre Anliegen durchsetzen möchten. Im Kontext des türkisch-kurdischen Konfliktes muss jedoch auch die Bundesrepublik Deutschland Verantwortung übernehmen. Wir lehnen die Rekrutierung von Menschen für militärische Handlungen in jeglicher Richtung in der Türkei und anderswo ab und fordern ein stärkeres Engagement für ein Ende der Waffenexporte in die Türkei! Zugleich muss auch ein Sinneswandel in der grünen Politik stattfinden. Wir sind wichtige und für die kurdische und türkische Friedens- und Demokratiebewegung unverzichtbare Akteur*innen. Wir müssen die Türkei, im Sinne des europäischen Fortschrittsberichtes, dazu auffordern, Friedensverhandlungen mit kurdischen Parteien, der kurdischen Zivilgesellschaft und weiteren Akteur*innen, auf Augenhöhe zu führen! Wir, als GRÜNE JUGEND NRW, wissen, dass Vielfalt den Frieden nicht stört, sondern fördert und sichert!

Mehr Demokratie unterstützen!

Die Türkei ist in ihrem System sehr stark zentralistisch ausgerichtet. So bestimmen von der Hauptstadt Ankara aus eingesetzte „Gouverneure“, wie die Kommunalpolitik vor Ort gestaltet werden soll. Außerdem sorgen noch einstmalig bei Putschen entstandene autoritäre Strukturen dafür, dass ein progressives Parteiengesetz nicht möglich ist: Parteien können so intransparent und ohne kritische Auseinandersetzung aufgelöst werden. Die geltende 10%-Hürde hindert verschiedenste Minderheiten in der Türkei an einer demokratischen Partizipation im Parlament. Aber auch den Medien fällt eine wichtige Aufgabe in der Gestaltung einer kritischen Öffentlichkeit zu: In einer Demokratie muss eine parteiübergreifende Presselandschaft und eine bedingungslose Pressefreiheit gegeben sein!

Mehr Säkularität unterstützen!

Die AKP-Regierung orientiert sich immer weniger an einer säkularen Gesellschaftspolitik (also eine Politik, die Religion und Staat von einander trennt), was dazu führt, dass religiös motivierte Reformen durchgesetzt werden. Die Demonstrationen in der Türkei zeigen, dass die Bevormundungspolitik der AKP-Regierung ein Unbehagen in den liberalen Teilen der Zivilgesellschaft auslöst. Die GRÜNE JUGEND NRW stellt sich nicht gegen die individuelle Religionsausübung und positioniert sich gegen einen radikalen, vom türkischen Militär, geforderten Laizismus. Dennoch unterstützen wir die Forderung, dass religiöse Werte nicht vom Staat institutionalisiert und politisch missbraucht werden dürfen!
Unabhängigere Justiz unterstützen!
Die justizielle Situation in der Türkei ist heutzutage sehr Besorgnis erregend – all zu oft ist zu beobachten, dass Gerichtsverfahren und -urteile politisch motiviert sind: Der türkischstämmige Kölner Schriftsteller und deutsche Staatsbürger Dogan Akhanli wurde im August 2010 am Flughafen in Istanbul, mit dem Vorwurf er sei im Oktober 1989 an einem Raubüberfall auf eine Istanbuler Wechselstube beteiligt gewesen, bei dem ein Mensch getötet wurde, verhaftet. Von diesem Vorwurf des Raubmordes wurde er jedoch schon im ersten Gerichtsverfahren am 12. Oktober 2011 von einem Istanbuler Strafgericht freigesprochen! Das Revisionsgericht in Ankara möchte ihn jedoch in einem 2.Verfahren verurteilt sehen. Dogan Akhanli genießt auch im 2. Verfahren von verschiedensten Kölner zivilgesellschaftlichen Akteuren, Parteien und auch der GRÜNEN JUGEND KÖLN vollste Unterstützung! Wir, als GRÜNE JUGEND NRW, verurteilen politisch motivierte Verhaftungen und Urteile und unterstützen jedwede Förderung von größtmöglicher Gewaltenteilung und einer unabhängigen Justiz!

Glossar

”osmanisch”: Osmanen, Dynastie im Nahen Osten und im Balkan bis 1923; Nach dem 1.Weltkrieg untergegangen; ”Nachfolgestaat”: Türkei
„Bosporus“: Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und Mittelmeer
”krude”: grob / rau / brutal / grausam
”Genozid”: Massenmord
”Assimilationspolitik / Assimilation”: Gleichschaltung / Anpassung von Ethnien, oder Religionen
”Laizismus”: Radikale Trennung von Religion und Staat
”institutionalisiert”: hochgehalten / in den Mittelpunkt gerückt (z.Bsp. vom Staat)

Beschlussfassung der Landesmitgliederversammlung am 29./30. Juni 2013 in Bielefeld.



← zurück