30. Juni 2013

Solidarität mit der Zivilgesellschaft in der Russischen Föderation



Ein Staat, der jährlich rund 50 rassistische Morde vorzuweisen hat, in dem oppositionelle Politiker in Schauprozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden und regelmäßig Wahlen gefälscht werden, kann nur schwerlich als Vorbild für Freiheit und Gleichheit gelten.

Seit den Massenprotesten gegen die massiven Wahlfälschungen zum Jahreswechsel 2011/2012 hat sich die politisch-gesellschaftliche Lage in der Russischen Föderation jedoch noch einmal erheblich verschlechtert. Westliche Medien berichten und berichteten in diesem Zusammenhang vor allem über die Verfahren gegen drei Mitglieder der Aktionsgruppe „Pussy Riot“, über die Ausweitung des bis dahin nur regional gültigen Gesetzes zum „Verbot homosexueller Propaganda“ auf das gesamte Staatsgebiet sowie über die neuen NGO-Gesetze. Dabei stehen diese Ereignisse nur stellvertretend für die alltäglichen kleinen und großen Repressionen, die freiheitsliebenden Menschen zunehmend das Leben schwermachen.

Kleine Chronologie der neuen Repressionswelle

Auftakt zu dieser Welle neuerlicher Unterdrückung war der Prozess gegen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Marija Aljochina für eine subversive Aktion im Februar 2012 in der Christi-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Das „Punkgebet für Freiheit“ wurde von internationalen Medien vor allem als Aktion gegen Putins autoritäre Politik beschrieben, richtete sich aber mindestens eben so sehr gegen den in Russland herrschenden Sexismus.
Das sich daran anschließende Verfahren im Sommer 2012 geriet zur Farce und endete für die Angeklagten mit äußerst hohen Haftstrafen von zwei Jahren, die im Berufungsverfahren immerhin für Jekaterina Samuzewitsch in eine Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Im Laufe des Prozesses wurde sehr deutlich, dass an den drei Aktivistinnen ein Exempel statuiert werden sollte. Dabei hatte der auffällige Ort der Aktion zur Folge, dass die orthodoxe Kirche die Stimmung gegen die drei Aktivistinnen anheizen konnte.
An sich wies der Prozess gegen Tolokonnikowa, Samuzewitsch und Aljochina keine großen Neuerungen der politischen Rechtsprechung seit dem Amtsantritt Putins auf. Schon gegen Oligarchen wie Michail Chodorkowski oder oppositionelle Politiker wie Lew Ponomarjew waren Prozesse in ähnlicher Weise geführt worden.
Doch anders als bei vorhergehenden Verfahren kann der Prozess gegen die Pussy-Riot-Aktivistinnen als Beginn einer neuen Serie staatlicher und staatlich tolerierter Repressionen gegen oppositionelle Politiker*innen und Parteien, gegen Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen sowie gegen die autonom organisierte antifaschistische Szene bezeichnet werden.
Als ein Grund für das verschärfte Vorgehen gegen putinkritische Gruppierungen werden die angeblichen „Massenunruhen“ während einer Großdemonstration gegen Putins Politik am 6. Mai 2012 in Moskau angegeben. Damals kam es zu erheblichen Übergriffen der paramilitärischen Polizeieinheit OMON mit zahlreichen Verletzten und knapp 1000 Verhaftungen. Die Mitorganisatoren Sergej Udaltsov und Leonid Razwozzhajew werden nun wegen der Organisation von Massenunruhen und der Vorbereitung der Destabilisierung der Macht angeklagt.
Eine Ermittlungskommission der russischen Zivilgesellschaft versucht nun die Ereignisse vom 6. Mai, nach dem Ort der Geschehnisse auch als Fall „Sumpf“ bekannt geworden, aus Sicht der Demonstrierenden aufzuarbeiten. Aus allerlei staatlichen Quellen und Medienberichten, aus schriftlichen Berichten von Teilnehmenden und Zeug*innen, aus privaten und öffentlichen Video- und Tonaufzeichnungen hat sie eine ganz andere Darstellung der Ereignisse erarbeitet. Es ist die Darstellung krasser Polizeigewalt und erheblicher Verstöße gegen die Versammlungsgesetze durch die Sicherheitsbehörden.
Das hält die Ermittlungsbehörden nicht davon ab, weiter zu ermitteln, hohe Haftstrafen zu fordern und auf zweifelhafte Mittel zurückzugreifen. So wollte sich ein Mitarbeiter Udaltsovs durch die Flucht in die Ukraine der Verhaftung zu entziehen, wurde dort aber von Agenten des russischen Geheimdienstes FSB entführt, verschleppt und nach eigenen Angaben gefoltert.
Ende April, Anfang Mai diesen Jahres kam es zu weiteren Festnahmen, unter anderem wurde der bekannte Antifaschist Alexej Gaskarow verhaftet. Ihm wird ebenso wie Udaltsow und anderen Beteiligung an bzw. der Aufruf zu „Massenunruhen“ vorgeworfen.
Obwohl sich diese neue Repressionswelle hauptsächlich gegen Teile der sich eben erst formierenden Linken richtet, bleiben auch liberale Aktivist*innen und Gruppen nicht verschont. So greift das neue NGO-Gesetz vor allem das liberale Spektrum aus Menschenrechts-, Umwelt- und Antikorruptionsorganisationen an. Für diese werden neben verschärften administrativen Vorgaben auch die Selbstbezeichnung „Ausländischer Agent“ verpflichtend. Bei Nichtbeachtung drohen den sowieso klammen Gruppierungen Geldstrafen in empfindlicher Höhe.
Gegen den liberale Oppositionspolitiker, Blogger, Sprecher des „Koordinationsrats für die russische Opposition“ und designierte Präsidentschaftskandidat Alexei Nawalny wurde bereits im Juli 2012 Anklage wegen Veruntreuung staatlicher Gelder erhoben. Wird er verurteilt, gilt er als vorbestraft und darf deshalb nach neuestem russischem Recht nicht mehr für ein öffentliches Amt kandidieren.
In diese Auflistung reiht sich auch das Gesetz zum Schutz von Minderjährigen vor „Homosexueller Propaganda“ ein, welches vor der letzten Lesung in der Staatsduma noch auf „nichttraditionelle sexuelle Beziehungen“ ausgeweitet wurde. Damit soll queeren Menschen die Möglichkeit genommen werden, sich gegen Diskriminierung zu wehren oder gar mehr bzw. gleiche Rechte einzufordern. Das Zeigen der Regenbogenflagge bzw. dieses Logos ist so zum Beispiel unter Strafe gestellt.

Verhinderung einer neuen Gegenbewegung

Grund für diese Repressionswelle dürfte die Entstehung einer inhaltlich breit aufgestellten Oppositionsbewegung gewesen sein. Die Proteste zwischen Dezember 2011 und Sommer 2012 entwickelten sich zunehmend von Demonstrationen für einzelne Verfassungsrechte wie freie Wahlen und ein freieres Versammlungsrecht hin zu kreativeren Aktionen für weitergehende sozioökonomische Reformen.
Diese Forderungen schließen zum Beispiel höhere Steuern für reiche Menschen, ein entschlosseneres Vorgehen gegen Korruption und die Machenschaften der Moskauer Oligarchen-Sippe sowie höhere Löhne, Reformen im Gesundheitswesen und des Bildungssystems ein.
Diese durchaus populären Forderungen hätten die Attraktivität oppositioneller Gruppen erheblich steigern können. Waren die liberalen Bewegungen mit ihren Forderungen nach „sauberen“ Wahlen und Versammlungsfreiheit bisher doch eher von der breiten Masse ignoriert worden. Diese aufkeimende Differenzierung und Radikalisierung der Proteste fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der Demonstration am 6. Mai 2012, die nach der Logik der Regierung Putin folgerichtig gewaltsam aufgelöst und anschließend diffamiert wurde.

Nationalismus als Argument

Ein immer wiederkehrendes Motiv dieser Hetzkampagnen gegen putinkritische Gruppierungen ist Nationalismus. Besonders eindrücklich zeigt dies das neue NGO-Gesetz, das finanzielle Unterstützung durch internationale Organisationen als Spionagetätigkeit bezeichnet.
Auch die neueste homophobe Gesetzgebung wird mit kulturellen Eigenheiten und einem Bedürfnis nach Abgrenzung vom „Westen“ begründet.
Auf diese Weise können Repressionen gegen alternative Bewegungen bei den gläubigen und patriotischen Bevölkerungsteilen gut mit nationalistischen Beweggründen legitimiert werden. Patriotische Gefühle anzusprechen ist in der Russischen Föderation wegen des grassierenden Rassismus eine sehr erfolgversprechende Methode. Putins Regierung kannso bei weiten Bevölkerungsteilen trotz der zunehmenden sozialen Spannungen immer wieder punkten.
Diese Stimmung verhilft aber auch homophoben, rassistischen und antidemokratischen Aktivist*innen aus dem faschistischen Spektrum mit zur Legitimierung von Gewalttaten.
Selbst oppositionelle Gruppen können sich von diesem Nationalismus nicht freimachen und durch der krassen Repressionen sowie der verfahrenen Situation in der Politik sind inzwischen sogar Teile der Linken zur Kooperation mit faschistischen Organisationen bereit.

Behinderung des Kampfes gegen Diskriminierung

Doch nicht nur Nationalismus ist in der Russischen Föderation populär. Insbesondere Rassismus, Sexismus und Homophobie sind weit verbreitet und mit einer erheblichen Gewaltbereitschaft von Faschist*innen und Nationalist*innen bzw. orthodoxen Fundamentalist*innen gepaart.
Engagement gegen Unterdrückung und Diskriminierung findet so in einem äußerst schwierigen Umfeld statt. Durch fehlende staatliche Unterstützung, sowohl finanzieller als auch ideeller Art, wird diese Arbeit zusätzlich erschwert.

Kritik am Deutsch-Russischen Verhältnis

Trotz oder vielleicht gerade wegen der regelmäßigen Empörungswellen in den deutschen Massenmedien, wenn russische Aktivist*innen gerade wieder neuen Repressionen ausgesetzt sind, finden auch putinfreundliche Meinungen in der Medienlandschaft, aber auch in der deutschen alternativen Szene Anklang.
Auf konservativer und liberaler Seite wird vor allem aus ökonomischen Erwägungen heraus Zurückhaltung gegenüber dem autoritären Regime Putins gefordert.
Darüber hinaus wird angesichts des Themenfelds Russland auch immer wieder der in Deutschland latente Antiamerikanismus ersichtlich. Nach dieser Logik ist Kritik an der Russischen Föderation nur dann zulässig, wenn mindestens in gleichem Umfang Kritik an den USA und ihren Kriegen im Irak, in Afghanistan sowie des militärischen Vorgehens im „Krieg gegen den Terror“ geäußert wird. Mit Schuldzuweisungen, Vorurteilen und der Weigerung die Realität in der Russischen Föderation anzuerkennen, verändert sich die Lage vor Ort allerdings nicht.
Das schwierige offizielle Verhältnis zwischen den verschiedenen Russischen und Deutschen Staaten setzt sich somit bis heute fort und ist von Vorurteilen und Ignoranz geprägt. Eine Fortsetzung dieses Verhältnisses darf es in unseren Augen in dieser Form nicht mehr geben. Eine politisch-ökonomische Zusammenarbeit mit dem Regime Putin darf unserer Meinung nach die Einschränkungen grundlegender Rechte nicht weiter ignorieren. Die Kooperation mit denjenigen, die gegen Korruption, Rassismus, Sexismus und Homophobie arbeiten muss weiterhin gesucht werden. Angesichts des immer akuter werdenden Geldmangels russischer NGOs muss auch ausdrücklich ein Ausbau der finanziellen Unterstützung erwägt werden. Angesichts der herrschenden Unterdrückung in der Russischen Föderation, des maroden Bildungswesens und der geringen Möglichkeiten für kritische Bildungsarbeit wollen wir alles daran setzen, kritische Meinungsbildung in der Russischen Föderation zu ermöglichen und zu fördern. Dazu gehört auch der Erhalt bereits bestehender kritischer Einrichtungen, die im Rahmen der neuen Situation von der Schließung bedroht sind.
Eine intensivere Vernetzung deutscher und russischer NGOs zum Erfahrungsaustausch, aber auch um kritische Beobachtung der Vorgänge in Russland zu ermöglichen, sehen wir ebenfalls als lohnenswert an. Dabei müssen unter Umständen gewisse Kompromisse geschlossen werden, um den historisch gewachsenen Unterschieden in Inhalten, Organisierung und Sprache sowie Vokabular gerecht werden zu können.
Angesichts der bereits eingetretenen Repressionsmaßnahmen, der zahlreichen Festnahmen im Zusammenhang mit dem Fall „Sumpf“, der Unterdrückung bestimmter Lebensstile und Meinungen, fordern wir die sofortige Freilassung aller im Rahmen der Ereignisse vom 6. Mai 2012 auf dem Bolotnaya Platz Verhafteten, die Freilassung der anderen politischen Gefangenen, die Rücknahme des neuen NGO-Gesetzes sowie des Verbots „homosexueller Propaganda“.
Letzteres Gesetz darf auch auf keinen Fall noch weiter verschärft werden, wie es einige Abgeordneten der Staatsduma bereits vorgeschlagen haben.
Die Regierung der Russischen Föderation muss sich mindestens an die eigene Verfassung sowie die Europäische Konvention für Menschenrechte halten. Beides tut sie momentan unseres Ermessens nach nicht.
Free Pussy Riot! Freiheit für Aleksei Gaskarow! Solidarität mit den Betroffenen der aktuellen Repressionen!

Beschlussfassung der Landesmitgliederversammlung am 29./30. Juni 2013 in Bielefeld.



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