7. August 2013

Deutschland geht es um die Wurst: über das deutsche Freiheitsverständnis und Veggie-Days



von Lise Känner (18), Wahlkampfpraktikantin der GRÜNEN JUGEND NRW
und Manuel Muja (22), Koordinator des Fachforums Globales und Europa der GRÜNEN JUGEND

Seit Wochen sind die Nachrichten von einem Thema bestimmt: Dem Überwachungsskandal der amerikanischen National Security Agency (NSA) mit dem Ausspähprogramm PRISM sowie das britische Überwachungsprogramm Tempora. Seit der Enthüllung der Geheimdiensttätigkeiten durch Edward Snowden kommt das Ausmaß der Überwachung Stück für Stück ans Licht. Alle Daten von Deutschen, die über einen amerikanischen Server laufen, werden von der NSA gespeichert. Doch das ist längst nicht alles. Denn der Bundesnachrichtendienst (BND) selbst steckt mit in dem Skandal. Er übermittelt sogenannte Metadaten, die er in Deutschland gesammelt hat, an die NSA. Er nutzt laut eigenen Angaben das Spähprogramm XKeyscore versuchsweise und nur im Rahmen der Gesetze. Dass mit diesem Programm eine Infrastruktur für die völlige Überwachung des “deutschen Internets” vorhanden ist, wird dabei vom BND gern verschwiegen. Auch dass der BND laut Aussagen von ehemaligen hochrangigen, männlichen NSA-Mitarbeitern seit dem Jahr 2001 mit der NSA kooperiert und sogar Quellcodes für diverse Überwachungsprogramme erhalten hat (vergleiche hierzu das Interview im Stern, Ausgabe Nr. 31), ist in der öffentlichen Darstellung seitens des BND unter den Tisch gefallen. Doch wen wundert das. Illegale Aktivitäten zugeben? Wann ist das schon ein Mal VOR einem Gerichtsurteil geschehen? Und unsere Bundesregierung? Sie will uns erklären, dass sie selbst erst aus den Nachrichten von der Überwachung erfahren habe. Sie sitzt den Skandal aus, schickt eine Spielfigur auf einen Show-Trip in die USA, um sich dort erklären zu lassen, dass alles legal sei und versucht, mit aller Kraft zu vermeiden, dass in Wahlkampfzeiten ein unangenehmes Thema auf die Tagesordnung gesetzt wird. Anstatt sich für die Grundrechte einzusetzen, verteidigt sie die Aktivitäten des BNDs. Angesichts der neuesten Enthüllungen sind die vermeintliche Unwissenheit der Bundesregierung und die als völlig legal dargestellte Praxis des BND als billiges und unglaubwürdiges Wahlkampfmanöver zu bewerten.

Doch geben wir es mal zu: Eigentlich ist es uns doch eh egal, was gesammelt wird, oder nicht? Wir haben doch nichts zu verbergen, oder? Zumindest kann man schnell zu einem solchen Eindruck kommen, wenn man sieht, wie emotionslos die Gesellschaft die aufgedeckten Fakten hinnimmt. “Es war doch sowieso schon klar!” oder “Wer facebook nutzt, hat halt selber Schuld!”. Dabei wird aber vergessen, dass es einen enormen Unterschied macht, ob ich freiwillig meine Daten einem Privatunternehmen anvertraue, oder ob ein Staat beziehungsweise mehrere Staaten ohne mein Wissen und ohne mein Einverständnis mein gesamtes Leben im Netz erfasst und überwacht. Denn in einem Staat, der systematisch alle erfassbaren Daten seiner Bürger_innen sammelt und speichert, gilt weder die Unschuldsvermutung, noch der Grundsatz “Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten”. Dass erst jetzt geprüft wird, ob die Praxis des BND und der NSA in Deutschland verfassungswidrig ist, ist dabei noch Mal ein Skandal für sich.

Wer Wissen hat, hat Macht. Und wer Wissen über mich hat, hat Macht über mich. Dieser Angriff auf unsere Privatsphäre, der Angriff auf unsere Freiheit scheint die Mehrheit allerdings kaum zu stören. Zumindest bringt sie es nicht lautstark zum Ausdruck. Und selbst jene, die momentan wirklich weder Geheimnisse haben, noch die Überwachung unangenehm finden, können nicht wissen, ob die jetzt gesammelten Daten auch in Zukunft nicht gegen sie verwendet werden und was später damit angestellt wird. Dennoch: Der längst fällige Aufschrei bleibt aus!

Und dann kommt er.

Der Tag des Aufschreis: Der 05. August 2013. Das Springer-Flagschiff BILD titelt: “Grüne wollen uns das Fleisch verbieten!” – worum es ging?
Im Sommerloch haben sich die Bildredakteuere wohl gedacht, man könne die Wahlprogramme der Parteien zur Abwechslung auch Mal lesen und haben dort folgende Formulierung gefunden:
“Öffentliche Kantinen sollen Vorreiterfunktionen übernehmen. Angebote von vegetarischen und veganen Gerichten und ein „Veggie Day“ sollen zum Standard werden. Wir wollen ein Label für vegetarische und vegane Produkte.”

Diese Zielsetzung ist weder neu, noch bedeutet sie ein Fleischverbot. Das einzige, was getan werden soll, ist, öffentliche Kantinen zu einer Vorreiterrolle zu motivieren.
Doch der Artikel war geschrieben. Die Grünen wollen das Fleisch verbieten. Und plötzlich ist er da. Der Aufschrei der Deutschen. Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, was ich wann esse! Wir leben in einem freien Land, ich kann essen was ich will! Dass der Weg zum Döner-Laden oder zur Currywurst-Bude um die Ecke an einem Veggie-Day in der Kantine, der nur auf freiwilliger Basis stattfinden würde, nicht gesperrt wird, wird übersehen. Aber plötzlich ist er da. Diese Bevormundung geht zu weit! Nehmt ihnen das Schnitzel aus der Kantine und ihr habt euer gesellschaftliches Engagment.

Dann ist auch egal, dass durch wir durch Staaten eh beeinflusst und manipuliert werden können, wenn sie unsere privatesten Daten kennen, ja wir könnten sogar erpresst werden. Das alles spielt keine Rolle, wenn es um die Wurst geht. Auch das Argument, dass ein Veggie-Day ja gar nicht zur gesetzlichen Pflicht werden soll und dass viele Menschen von schwarz-gelber Politik nicht nur bevormundet, sondern sogar diskriminiert und kriminalisiert werden, beruhigt die Gemüter nur wenig. Denn: Das Verbot für queere Paare, Kinder zu adoptieren, ist eine Bevormundung und Diskriminierung per Gesetz. Dass queere Paare nicht heiraten dürfen, ist eine Bevormundung und Diskriminierung per Gesetz. Das Verbot von Cannabis stärkt nicht nur den illegalen Drogenhandel, sondern kriminalisiert Kleinkonsument_innen, die einen Joint dem Bier vorziehen.
Aber sieben Wochen vor der Wahl geht ein Aufschrei durch die Republik. Grund dafür ist ein freiwilliger Veggie-Day. Und nach der Wahl meckert ihr dann wieder über die tatsächliche Politik? Informiert euch! Empört euch! Bringt euch ein! Lasst uns Ungerechtigkeiten abbauen! Und wir versprechen Euch: jede_r darf weiterhin essen, was sie_er möchte.

(PS: Interessantes Video: “Überwachungsstaat – Was ist das?”)



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