12. März 2017

„Bist du Junge oder Mädchen?“ – „Nein!“: Für die Sichtbarkeit von nichtbinären Menschen



Begriffe, die im Glossar (unten an) erklärt werden, sind im Text kursiv gekennzeichnet.

Die GRÜNE JUGEND NRW versteht sich als queerfeministischer Verband, der für eine diskriminierungsfreie Welt kämpft. Stereotype und Schubladendenken, wer Mann, wer Frau ist, haben da keinen Platz. Wir setzen uns auch für Menschen ein, die nicht in diese binären Geschlechterkategorien passen (wollen).

Nichtbinäre Menschen (auch non-binary oder genderqueer) können oder wollen sich nicht in das binäre Geschlechtermodell aus Mann und Frau einordnen lassen. Innerhalb des Spektrums gibt es verschiedene Geschlechtsidentitäten, die Menschen für sich akzeptieren. So können sich diese Menschen beispielsweise keinem Geschlecht zugehörig fühlen oder mehreren gleichzeitig.

Die Existenz von mehr als zwei Geschlechtern ist vielen Menschen leider nicht bewusst – nichtbinäre Personen werden als Nischenthema bezeichnet, ohne ihre (individuellen) Problemlagen zu berücksichtigen. Auch in queerfeministischen Kontexten besteht Nachholbedarf, wenn es um Schutzräume oder die Förderung von marginalisierten Personengruppen geht. Binärität, also die ausschließliche Existenz der Geschlechterkategorien Mann und Frau, wird so selbstverständlich hingenommen wie ein Naturgesetz. Wer diese Einteilung hinterfragt, trifft auf Unverständnis und Ablehnung.

  • Wir fordern: Endgültiges Verbot von genitalverändernden Operationen an Menschen, die zu jung sind, um ihr Einverständnis zu geben. Körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht, das es zu wahren gilt.
    Menschen sollen über die eigene Identität bestimmen dürfen; das Geschlecht kann dabei eine entscheidende Rolle spielen. Wir meinen: Lasst Menschen sein, wie sie sind und wie sie sein wollen, ohne ihnen von außen ein Label aufzuzwingen. Niemand muss sich outen und womöglich die eigene Geschlechtsidentität rechtfertigen.

 

Das Geschlecht, das in die Geburtsurkunde eingetragen wird, in dem wir sozialisiert werden und das den Menschen auch heute noch bestimmte Eigenschaften zuschreibt, beruht auf der Zuweisung des*der entbindenden Ärzt*in. Intergeschlechtliche Säuglinge, also Neugeborene, die körperlich weder eindeutig dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden können, werden noch viel zu oft ohne medizinische Notwendigkeit operiert. Hormone, Chromosomen, primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale – all das kann in unterschiedlichen Variationen auftreten. Intergeschlechtlichen Kindern also allein aufgrund eines Faktors ein Geschlecht zuzuordnen, mit dem sie jahre- und jahrzehntelang leben müssen, verstößt gegen die persönliche Selbstbestimmung. Bei intergeschlechtlichen Kindern handelt es sich zumindest um eine medizinisch anerkannte Abweichung von der binären Einteilung. Für nichtbinäre Menschen gibt es derzeit keinerlei Möglichkeit, den Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde abzulegen.

Neben intergeschlechtlichen Personen leiden auch Transpersonen unter dem gesellschaftlichen Druck, wie „Männer“ und „Frauen“ zu sein haben. Trans* bedeutet, dass eine Person das bei ihrer Geburt zugewiesene Geschlecht ablehnt. Transgeschlechtliche Frau bezeichnet eine Frau, die bei ihrer Geburt nicht dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde, transgeschlechtlicher Mann einen Mann, der bei seiner Geburt nicht dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurde. Darüber hinaus gibt es transgeschlechtliche Personen, die die binären Kategorien Mann-Frau ablehnen und sich weder eindeutig als Mann, noch als Frau verstehen.

In den USA zeigt sich gerade ein Roll-Back: Transpersonen sollen nicht mehr die öffentlichen Toiletten benutzen dürfen, die ihrem Geschlecht entsprechen, sondern werden gezwungen, die Toiletten zu nutzen, die ihrem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht entsprechen. Damit werden nicht cisgeschlechtliche Frauen geschützt, sondern transgeschlechtliche Personen aus der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Um Menschen nicht zum Zwangsouting zu nötigen oder sie aus dem Alltag zu drängen, fordern wir weiterhin die zusätzliche Einrichtung von Toiletten, die allen Geschlechtern offenstehen.

  • Wir fordern: Unisextoiletten fördern und in öffentlichen Einrichtungen ausbauen! Alle Menschen haben ein Recht auf einen angstfreien Toilettengang.

 

Der Kampf gegen (strukturelle) Diskriminierung aufgrund des Geschlechts war und ist ein grünes Kernthema. Das Frauenstatut von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN feierte im letzten Jahr sein 30-jähriges Bestehen. Aber von geschlechtsbezogener Diskriminierung sind nicht nur Frauen betroffen. Menschen werden aufgrund ihres Aussehens und Auftretens bewertet und behandelt, unabhängig von ihrer eigenen Identität – ihnen wird ein (binäres) Geschlecht zugewiesen, weil die Unsicherheit vor nicht eindeutig lesbaren Geschlechtern groß ist. Das kann zu unangenehmen zwischenmenschlichen Situationen führen, weil das Benutzen des falschen Pronomens immer die Entscheidung zwischen Zwangsouting und Dysphorie mit sich führt, es kann aber auch Hass und Gewalt hervorrufen, weil das Gegenüber nicht so akzeptiert wird, wie es ist.

  • Wir fordern: Konsequentes Vorgehen gegen Hate Speech gegen inter-, transgeschlechtliche und nicht-binäre Menschen. Alle haben ein Recht auf Würde, egal welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen.

 

Der Weg zu einer Gesellschaft, in der alle Menschen und ihre Geschlechtsidentitäten akzeptiert werden, führt auch über Bildung. In Schulen muss die Geschlechtervielfalt in Lehrplänen, Lernmaterialien und Bücher abgebildet werden. Im Studium muss es in der Medizin, Psychologie, Sozialwissenschaften, aber auch Lehramtsstudiengängen Pflichtmodule zu nichtbinärer Existenz und ihren Diskriminierungserfahrungen geben. Auch in der Forschung und Beratung sowie Antidiskriminierungsarbeit brauchen wir mehr (finanzielle) Unterstützung.

  • Wir fordern: Lasst uns dem Unwissen ein Ende bereiten! Gelebte Geschlechtervielfalt als politisches Querschnittsthema. Es gehört auf die Agenda insbesondere in der Bildungs- als auch Kulturpolitik.

 

Die Depressions- und Suizidrate (42%) unter jungen Trans-Menschen ist erschreckend hoch. Dem darf nicht länger tatenlos zugeschaut werden.

  • Wir fordern: Bedarfsgerechte Angebote im psycho-sozialen Bereich, Unterstützung und Hilfe, insbesondere in der queeren Jugendarbeit. Denn wir wollen angstfreies und gutes Leben für Menschen jeglichen Geschlechts ermöglichen!

 

Die Diskriminierung von nichtbinären Personen beschränkt sich aber nicht nur auf gesellschaftliche Ausgrenzung. Auch die rechtliche Situation bedarf einer dringenden Reform. Das Transsexuellengesetz schreibt Gutachten für die Änderung des Geschlechtseintrags vor, die demütigend für die Person sind und stereotype Geschlechterrollen fortschreiben. Die eigene Geschlechtsidentität auch offiziell leben zu können, ist nicht nur ein teurer, sondern auch ein langer und bürokratischer Prozess. Die Möglichkeit einer nichtbinären Geschlechtseintragung gibt es überhaupt nicht. Lediglich für intergeschlechtliche Säuglinge gibt es die Möglichkeit, vorerst keinen Geschlechtseintrag vorzunehmen.

Name und Geschlecht sind Eigenschaften, die oft schon vor der Geburt festgeschrieben werden. Beide werden tagtäglich in Formularen abgefragt, sodass nichtbinäre Personen immer wieder damit konfrontiert werden, dass Unternehmen und Behörden ihren Geburtsnamen und das ihnen zugewiesene Geschlecht wissen wollen und die Identität der Person nicht ausreicht. Nicht immer ist das Geschlecht überhaupt eine notwendige Information; auch die Namensänderung sollte vereinfacht werden. Langfristig ist zu prüfen, ob überhaupt ein Geschlecht bei der Geburt zugewiesen werden muss.

  • Wir fordern: Rechtliche Anerkennung geschlechtlicher Identitäten unabhängig von körperlichen Merkmalen und jenseits der binären Kategorien Mann-Frau. Bürokratie abbauen und der gelebten Geschlechterrealität gerecht werden! Die dem BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) vorliegenden Reformvorschläge aus dem Gutachten des Deutschen Instituts für Menschenrechte gehören umgehend umgesetzt. Dazu gehören u.a. die Einführung eines GeschlechterVielfaltsGesetzes (GeVielG), die Überführung der Möglichkeit von Änderungen von Namen und Geschlechtseintrag in herkömmliches Namens- und Personenstandsrecht sowie die ersatzlose Streichung bisher nötiger Nachweise wie psychiatrischer Gutachten. Reformvorschläge, deren Umsetzung wir ebenfalls fordern, sind die Schaffung weiterer juristischer Geschlechtskategorien jenseits der herkömmlichen Mann-Frau-Einteilung, ein möglichst weitgehender Verzicht auf die Erhebung/Nennung dieser in bürokratischen Verfahren, sowie die Möglichkeit den Geschlechtseintrag ganz frei zu lassen.

 

In der Medizin gibt es viele Verfahren, die zu einer Transition dazugehören können, um Dysphorie (Unwohlsein im eigenen Körper) abzubauen. Dazu zählen psychotherapeutische Angebote, aber auch die Einnahme von Hormonen und Operationen. Obwohl die Art in Anspruch genommener Maßnahmen von Person zu Person unterschiedlich ist, üben Ärzt*innen oftmals Druck auf Betroffene aus und zeigen Unverständnis, wenn in einem Fall nur eine Hormoneinnahme, aber keine Operation gewünscht ist. Hier zeigt sich, dass auch viele Mediziner*innen sehr starren zweigeschlechtlichen Bildern anhängen und eine Transition als eine feste Einheit von Maßnahmen ansehen. Mit einer Behandlung, die einem „ganz oder gar nicht“-Ansatz folgt, ist aber vielen Betroffenen nicht geholfen.

Oft werden klischeehafte Geschlechterbilder als Maßstab herangezogen, inwieweit eine Person wirklich transgeschlechtlich ist. Viele Psychiater*innen verlangen von Betroffenen, dass sie weibliche oder männliche Stereotype erfüllen, beispielsweise durch das Tragen von Make-up, bevor sie die Einleitung medizinischer Schritte absegnen. Dadurch werden Betroffene in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt.

  • Wir fordern: Medizinische Angebote, die sich nach den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen richten. So unterschiedlich wie Menschen sind, müssen auch Transitionen gehandhabt werden können. Betroffene müssen selbst entscheiden können, welche Kombination aus medizinischen Angeboten die richtige für sie ist. Mit der Unterzeichnung der Stuttgarter Erklärung der Aktion Transsexualität & Menschenrechte haben sich bereits viele Menschen mit dieser Forderung solidarisch gezeigt. Nun ist es an der Politik dies rechtlich abzusichern.

 

Als queerfeministischer Verband muss auch die GRÜNE JUGEND NRW immer wieder reflektieren, wo und wie sie nichtbinäre Personen (strukturell) diskriminiert.
Aber auch im persönlichen Umgang miteinander müssen wir darauf achten, dass wir
allen Menschen und ihren Geschlechtsidentitäten respektvoll gegenübertreten und
ihre selbst gewählten Namen und Pronomen nutzen. Auch ist es gar nicht immer
notwendig, das Geschlecht einer anderen Person zu kennen, um mit ihr zu
kommunizieren und umzugehen.

Lasst uns die Veränderung in unserem Verband, unserem Umfeld und der
Gesellschaft leben, für die Rechte von
nichtbinären Menschen kämpfen und eine
Welt schaffen, in der jede*r die eigene Identität (aus)leben kann!

 

Glossar

Zwangsouting: Die Preisgabe der eigenen Geschlechtsidentität gegen den eigenen
Willen bzw. nicht unter selbstgewählten Umständen

Dysphorie: Unwohlsein im eigenen Körper aufgrund von äußerer Wahrnehmung und
eigener Geschlechtsidentität

Cis: Cis bedeutet, dass sich Menschen mit dem Geschlecht identifizieren, dass
ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde, also nicht trans.

Trans: Trans* bedeutet, dass eine Person das bei ihrer Geburt zugewiesene
Geschlecht ganz oder teilweise ablehnt.

nichtbinär/non-binary: Nichtbinär steht für Menschen, die sich nicht in das
binäre Geschlechtermodell einordnen können oder wollen, diese werden auch als
non-binary also genderqueer bezeichnet.

Intergeschlechtlich: Unter intergeschlechtlichen Menschen werden Personen
verstanden, die körperlich weder eindeutig dem männlichen, noch dem weiblichen
Geschlecht zugeordnet werden können. Oft weisen sie körperlich sowohl männliche
als auch weibliche Geschlechtsmerkmale auf, wenn auch verschieden stark
ausgeprägt.

queer: Sammelbegriff für alle Menschen, die nicht hetero und/oder cis sind.

Beschlossen von der Frühjahrs-Landesmitgliederversammlung am 12.03.2017



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