60 Jahre und kein bisschen weise
Tausende Menschen werden zu den Protesten gegen den NATO-Gipfel in Strasbourg und Baden-Baden erwartet. Doch warum? Felix Pahl erklärt, was es an der NATO zu kritisieren gibt.
Laut der Präambel ihres Gründungsvertrags dient die NATO der „gemeinsamen Verteidigung“. Das klingt erst mal gut – besser gemeinsam als allein, besser Verteidigung als Angriff. Es ist noch nicht so lange her, dass das Militär in Europa eher dem gegenseitigen Angriff als der gemeinsamen Verteidigung diente. So gesehen ist die NATO ein Schritt nach vorn. Warum also Kritik an der NATO?
Die Frage, ob die NATO denn wirklich immer der Verteidigung dient oder auch Angriffskriege führt, möchte ich hier ausklammern und stattdessen das Konzept der Verteidigung hinterfragen. Darin angelegt ist eine Unterteilung der Welt in ein Innen, das verteidigt wird, und ein Außen, aus dem Angriffe befürchtet werden. Darin unterscheidet sich das Konzept der gemeinsamen Verteidigung grundlegend von dem der kollektiven Sicherheit. Kollektive Sicherheit wird von allen für alle mit allen bereitgestellt, gemeinsame Verteidigung von einigen für sich gegen andere. Der Unterschied ist vergleichbar mit dem zwischen der Polizei eines Rechtsstaats und dem privaten Sicherheitspersonal einer gated community.
Internationales Recht und strukturelle Gewalt
Diese Analogie legt zwei Deutungen für die Existenz der NATO nahe. Zum einen steckt die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen noch in den Kinderschuhen; das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen ist sehr brüchig, und wo das zentrale Gewaltmonopol schwach ist, bilden sich zwangsläufig private Sicherheitsdienste wie die NATO, um partikulare Sicherheitsinteressen zu wahren. Aus dieser Sicht scheint die NATO eine Funktion zu erfüllen, bis es gelingt, sie durch ein funktionierendes globales System kollektiver Sicherheit überflüssig zu machen oder in einem solchen aufgehen zu lassen.
Doch die Analogie weist auch auf einen weiteren Aspekt hin. Die Menschen, die inmitten einer armen Umgebung in einer gated community leben, haben ein besonders gesteigertes Sicherheitsbedürfnis, weil sie ein starkes soziales und ökonomisches Ungleichgewicht aufrechterhalten und gegen eine gewaltsame Veränderung der Eigentumsverhältnisse durch die weniger Privilegierten verteidigen wollen. Hier greift eine ganz andere Bedeutung von „Verteidigung“, die auch in Bezug auf die NATO relevant ist.
Das internationale System ist in hohem Maß von struktureller Gewalt geprägt – von der Durchsetzung tödlich asymmetrischer Handelsregeln bis zur Stabilisierung und politischen Rückendeckung für repressive Regime, die eher den Interessen ihrer auswärtigen Schutzmächte als ihrer eigenen Bevölkerung dienen. Zwar ist diese strukturelle Gewalt relativ selten mit direkter militärischer Gewaltausübung verbunden; dennoch ist natürlich das übermächtige Gewaltpotential der starken Staaten im Hintergrund eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass dieses ungerechte System aufrechterhalten werden kann.
Dieser Zustand ist nicht nur unter dem Gerechtigkeitsaspekt zu bedauern. Der Bericht des von Kofi Annan eingesetzten High-level Panel on Threats, Challenges and Change, der den Begriff der kollektiven Sicherheit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hat, führt aus, wie es die Etablierung eines kollektiven Sicherheitssystems behindert, wenn die Mächtigsten nur ihre eigenen Sicherheitsinteressen wahrnehmen:
Differences of power, wealth and geography do determine what we perceive as the gravest threats to our survival and well-being. Differences of focus lead us to dismiss what others perceive as the gravest of all threats to their survival. Inequitable responses to threats further fuel division. Many people believe that what passes for collective security today is simply a system for protecting the rich and powerful. Such perceptions pose a fundamental challenge to building collective security today. Stated baldly, without mutual recognition of threats there can be no collective security. Self-help will rule, mistrust will predominate and cooperation for long-term mutual gain will elude us.
Kleinkind NATO
Die Grundhaltung der Verteidigung geht an diesen Einsichten vorbei. Sie perpetuiert eine Bedrohungsanalyse aus dem Kalten Krieg und nährt dabei häufig erst die Gefahren, die sie in der Welt wahrzunehmen meint. Sie verkennt, dass die Verteidigung der einen die Bedrohung der anderen ist. Aus dieser Haltung heraus werden astronomische Summen zur Bewahrung einer erdrückenden militärischen Übermacht ausgegeben, die in keinem Verhältnis zu den Mitteln stehen, die für die Bekämpfung der Ursachen von Konflikten zur Verfügung stehen.
Besonders deutlich wird die Fragwürdigkeit des Verteidigungsbegriffs der NATO im Bereich der Nuklearwaffen. Das derzeitige strategische Konzept der NATO postuliert, dass Nuklearwaffen für die Sicherheit der Mitgliedstaaten für die vorhersehbare Zukunft unerlässlich bleiben werden. Man sucht darin vergeblich nach einer Reflexion darüber, dass sich daraus unmittelbar ergibt, dass die Hälfte der Menschheit, die nicht mit einer Atommacht verbündet ist, in ständiger Unsicherheit lebt. Als Funktion der Nuklearwaffen wird die „Verhinderung von Zwang“ bezeichnet. Nicht reflektiert wird, ob unter diesen „Zwang“ auch die Durchsetzung einer gerechteren Weltordnung fallen würde. Die Nuklearwaffen sollen „die Risiken jeglicher Aggression unkalkulierbar“ machen und etwaige „Angreifer im Ungewissen“ lassen. Sicherheit durch gezielte Verunsicherung. So spricht, wer meint, dass Gewalt immer nur von den anderen ausgeht, und nicht sehen kann, dass die eigene „Verteidigung“ den anderen als Gewalt erscheint. Das strategische Konzept erinnert in mancher Hinsicht an Überlegungen eines egozentrischen Kindes, das noch nicht gelernt hat, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen und in seinem Handeln zu berücksichtigen.
Zur Zeit findet eine globale Machtverschiebung weg von den NATO-Staaten statt. Nun könnte man meinen, dass eine Analyse der negativen Auswirkungen der NATO-Politik sich dadurch erübrigt und mit dem Aufkommen der schönen neuen multipolaren Welt, in der die NATO nur eine Mitspielerin unter vielen sein wird, getrost auf den Müllhaufen der (anti-)imperialistischen Geschichtsschreibung geworfen werden kann. Das wäre ein fataler Fehlschluss. Es ist alles andere als ausgemacht, ob in dieser neuen Welt nicht alle versuchen werden, inmitten von Klimachaos und Konflikten ihre eigene Haut zu retten, oder ob wir es schaffen werden, alle an einem Strang zu ziehen, um die globalen Probleme gemeinsam zu lösen. Noch haben die Menschen in den NATO-Staaten eine so große Machtkonzentration und einen so großen Anteil an den Ursachen der Probleme, dass sie durch konstruktives Verhalten der multipolaren Welt einen multilateralen, kooperativen Stempel aufdrücken könnten. Viel wird davon abhängen, ob sie sich rechtzeitig von dem Verteidigungsparadigma verabschieden und dem Rest der Welt mit offenen Armen, Augen und Ohren begegnen können.
Felix Pahl ist Sprecher der BAG Frieden
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